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Queenstowns Spitze und -
ein Loch in Wanaka


9. E-mail aus Aotearoa, 25. Mai 1996

Invercargill - die südlichste neuseeländische Stadt, geometrisch angelegt, hat eigentlich gar nichts Spezielles an sich: Rauh und kalt im Winter, stickig die Luft von den unzähligen Kohle-Öfeli, die in den nicht isolierten Häusern brennen und doch kaum Wärme geben; kühl im Sommer, ein Meer so kalt, dass man das nahe Antarktiseis zu spüren glaubt - Invercargill, eine Stadt, die vom riesigen Alu-Schmelzwerk und anderen schmutzigen Grossindustrien lebt und dennoch: Für uns hat diese Stadt eine besondere Anziehungskraft: vielleicht sind es die Leute, die wir kennen, oder all die positiven Erlebnisse, die wir bei vergangenen Besuchen in der Stadt hatten oder, wer weiss: Reisende haben verschiedene Geschmäcker - uns jedenfalls sagt Invercargill trotz allem zu, und unsere Gastgeber - Ron und Martha - leben ein Leben und in einem Haus, das jegliche schweizerischen Normen sprengt: Unaufgeräumt (Mütter hält euch fest, wenn wir Euch Zuhause die Fotos zeigen!), aber gemütlich - unorganisiert aber effizient - kleinräumig, aber weltoffen. Und weggeworfen wird nichts, denn auch aus Nichts kann Ron etwas machen. So wie aus dem ausgedienten, total verrosteten Auto, das in der Garage steht und zur Holz-Spaltmaschine umfunktioniert wurde. Doch all das ist kein Wunder: Ron und Martha sind weltgereiste Menschen, sie haben Kontinente erlebt, interessieren sich immer für Land und Menschen. Ron hat zudem eine Erstbesteigung eines 8000er im Himalaya-Gebirge gemacht, ein Abenteuer, von dem er heute noch einen kaputten, erfrorenen Fuss nachschleppt. Invercargill mit diesem für uns besonderen Reiz hält uns drei Tage fest - shoppen, ein Bier in der Taverne, ein Spaziergang durch den wunderschönen Queen Elisabeth Park und erzählen, erzählen, erzählen und erzählen (es gibt viel zu berichten, wenn man sich nur alle zehn Jahre sieht...), dann leider müssen wir schon wieder weiterziehen. Wir wollen schliesslich vor Monatsende zurück in Auckland sein, um von dort aus unsere Südseeträume zu starten.

Käppi fürs Fernweh
Queenstown ist beileibe nicht Neuseeland. Aber wer bei einem Neuseelandtrip Queenstown nicht besucht, hat Neuseeland nicht erlebt. So kommen auch wir - vor allem auf Evelines Drängen hin - nicht darum herum, an diesem stürmisch kalten, aber sonnigem Herbstmorgen, es ist Mittwoch, 15. Mai, in Richtung touristischer Hauptstadt aufzubrechen. Weite Weiden, grasgrüne Wiesen, riesiges Farmland und ein tiefblauer Himmel, durchzogen mit schneeweissen Wolken, begleiten uns nordwärts. In Lumsden machen wir Halt - essen unseren gewohnten Lunch samt Steak-Pie, diesem Mini-Küchlein ohne Nährwert (wie Eveline Malolo und mir immer weismacht!) und entdecken eine Leder-Factory, die von vier Frauen gemanagt wird. Hier endlich finde ich auch ein langersehntes Souvenir für mich: ein Lederkäppi, das mir wie angegossen passt und mir es deshalb völlig egal ist, ob es nun Mode ist oder nicht. Und zu Hause, wenn mich das Fernweh wieder packt, werde ich dieses Lederkäppi aufsetzen und solange über die sanften Hügel des Appenzellerlandes wandern, bis der Fernwehschmerz sich legt. . .

Queenstown: top
Weiter geht die Reise - ein Stop nochmals in Kingston, wo der "Kingston Flyer", die Dampflok und die alten Wagen, die von pensionierten und passionierten Lokfans in Fronarbeit liebevoll gepflegt werden, ihre Heimat haben. Kim und Malolo entdecken die im Winterschlaf dösende Lok in der offenen Remise, unser geplanter Kurz-Halt wird deshalb wesentlich länger...was soll's!
Dann windet sich die Strasse eng und kurvig entlang des Wakatipu-Sees Richtung Queenstown, der Touristenhauptstadt Neuseelands.
Im Tourist-Camp finden wir eine angenehme Unterkunft - zu unserer Überraschung günstig, neu und freundlich. Eveline geniesst Queenstown in vollen Zügen - wieder einmal ein Ort, der nicht meilenweit hinter der Gegenwart herhinkt! Hier gibt's alles zu kaufen, was in ist oder was Qualität hat, und, wenn man etwas sucht, sogar preiswert ist. Queenstown ist aber auch die Stadt der Snobies und Sporties - der Bungee-Jumper und Jupies: Nicht gerade unsere Wellenlänge - aber wohl nötig für das Tourismus-Business, das dieses Jahr nicht gerade erfolgreich verläuft. Und ebenso nötig sind auch die Quick-Stop-Asiaten, die kaufen und kaufen und kaufen: Verweilen Sie einmal in einem Bus-Stop-Shop und beobachten Sie... That's fun!
Donnerstag, 16. Mai 1996, Auffahrt: Von Sonntag oder Frei-Tag nichts zu spüren hier, business as usual. Wir - und das ist wohl ein Muss für Queenstown-Besucher - fahren mit der Gondola: das Familienticket zu 25 Dollar zwar totaler Abriss (einfache Fahrt gibt's nicht!), doch die Aussicht - heute im Wechselbad von Sonnenschein, Wolken, Regen, Schnee, Wind, Nebel - entschädigt für den Ärger und beruhigt unsere Gemüter.

Ein Loch
Am Nachmittag erneut ein "Muss"-Stop: Kawarau-Bridge, dort wo die Wagemutigen und Angetrunkenen ihren ersten Bungee-Sprung wagen.
Über die Cordona - der höchsten Strassenpass Neuseelands, mit fantastischer Weitsicht und dem Duft des ersten Schnees - erreichen wir gegen Abend Wanaka. Hier macht uns die Hotel-Suche etwas Mühe: Dieses passt uns nicht, jenes ist zu teuer, das Dritte zu klein, das Vierte zu wenig fein, beim Fünften ist alles i.O., aber es gibt keine family-units. Wir suchen - sinnlos! -, bis wir erschreckt erwachen: Kim rennt um die Ecke über eine Wiese, fällt und schlägt - es tätscht so richtig - mit seinem Kopf genau auf einen Stein. Es blutet und schreit - zum Glück bittet uns eine nette Frau in ihre Stube, telefoniert sofort dem Arzt. Beim genaueren Betrachten ist alles glücklicherweise nur halb so schlimm, doch die klaffende Wunde muss genäht sein. Wir suchen die lokale "Surgery", wo Kim für 10 Dollar sehr gut und liebevoll versorgt und seine Wunde genäht wird. Jetzt plötzlich ist das Motel nicht mehr wichtig, jeder auch nur ruhige Platz ist uns angenehm. Kims Loch im Kopf bringt uns wieder auf den Boden der Realität zurück...

Verloren im Maze
Die Tage sind kalt, am Morgen liegt Frost. Die Sonne aber, die uns auf der Südinsel fast täglich begleitet, wärmt schnell. Kim fühlt sich besser - Malolo ist jetzt sehr um ihren Bruder bemüht... und schnell kehrt Reisealltag wieder ein. Etwas ausserhalb Wanaka ist das berühmte Maze - ein irrer, dreidimensionaler Irrgarten
und ein Geduld- und Puzzle-Spiel-Zentrum, das wohl seinesgleichen sucht. Hier verweilen wir uns und merken kaum, wie schnell die Zeit vergeht...
Deshalb sind wir erst am frühen Nachmittag wieder unterwegs Richtung Westküste. Der Haast-Pass ist die sichtbare Grenze zwischen der regen- und regenwaldreichen Westküste und den trockenen Hochgebieten der Ostseite. Augenfällig, wie gegen die Westküste hin die ewiggrünen Wälder jedem Regen und Unwetter strotzen. Nur vereinzelt findet man jetzt Farmen oder Wohnhäuser, man fühlt man sich fern jeglicher Welt.
Die Strasse windet sich entlang des engen und teils steilen Haast-Passes, bergab Richtung Westküste wird das Tal immer breiter und breiter bis es sich - dort wo abends das tiefstehende Sonnenlicht auch in hintere Winkel eindringt - als riesiges Flussbett offenbart. Hier, wo Bergwasser und Meer zusammentreffen, steht das Dörflein Haast, das in den letzten Jahren neu aufgebaut wurde. Das alte Haast unten am Meer verschwindet langsam. Nur wenige Leute arbeiten und leben hier: entweder sind sie Fischer, arbeiten fürs DOC - Departement of Conservation - oder versuchen, das vorbeirasende Touristengeld abzufangen. Denn: Wer will schon in Haast verweilen, hier, wo es nichts zu tun gibt? Doch wer eine Weile rastet, merkt bald etwas von der eigenartigen Faszination des Dorfes - das geschieht auch uns, und so enden wir im "Backpackers", das zwei junge Leute, die an die Tourismuszukunft in diesem gottverlassenen Kaff glauben, eben neu aufbauen.

Der immergrüne Westen
Leider bleibt uns wenig Zeit, die Westküste intensiv zu erleben. Man sollte es verbieten, die Küste in nur fünf Tagen zu er-fahren, er-rasen! So denken zumindest wir. Ich erinnere mich an unsere ersten Westküsten-Erlebnisse: keine geteerten Strassen, menschenleere, unendlich lange Wege und wildfremde Menschen, die nach ein paar Gläsern Bier ihr Herz ausschütten und hysterisch zu weinen beginnen, weil es an der Westküste: "Nur regnet, regnet und immer nur regnet - und grünt, grünt und immer nur grünt!"
Heute ist das alles etwas einfacher: eine geteerte, gut unterhaltene Strasse führt der immergrünen, wilden Küste entlang, breite Schneisen sind da in die Regenwälder geschnitten, wo die Strasse sich landeinwärts windet! 100, 120 zeigt das Tacho - die Westküste fliegt förmlich vorbei! Wer Westküsten-Leben schnuppern will, hält an - irgendwo: Das Grün einatmen.
Wir haben Glück. Der Regen ist meilenweit entfernt und die Sonne lacht immerzu. An diesem Samstag, 18. Mai, erreichen wir den Fox-Glacier gegen Mittag: Die Wanderschuhe angeschnürt, den Lunch im Day-Pack verstaut, machen wir uns auf, den Gletscher näher zu betrachten. Jetzt, wo die Hochsaison vorbei ist, ist man schnell einsam auf diesen Trampelpfaden. Ein herrliches Erlebnis: Eben noch haben wir am Meeresstrand gestanden und jetzt spüren wir das ewigkalte Eis des Gletschers. Die Kinder sind begeistert vom dicken Eis, das im wilden River treibt. Papa fischt mit Müh' und Not die eisigen Brocken aus dem Wasser, und Kim will einfach nicht glauben, dass wir dieses Eis nicht als Souvenir mitnehmen können. . .
Solche Unterbrüche sind für die Kinder Gold wert, wenn sie stundenlang im Auto hocken müssen. Nach einem weiteren "obligaten" Stop in Franz Josef Glacier - einem unmöglichen Touristenkaff ohne jeglichen Charme - erreichen wir gegen Abend Hokitika - oder Hoki. Hier wollen wir zwei Tage bleiben, ruhen (nicht autofahren!) und die Stadt der Greenstones und des Goldes geniessen.

All has changed
"Richtig!", bestätigt eine ältere Frau, die zeitlebens in Hokitika wohnte: "Hier hat alles geändert -jetzt sind auch wir auf Touristen eingestellt!" Und tatsächlich: verschwunden sind die kleinen Hand- und Kunstwerker-Stuben, in denen man stundenlang mit Künstlerinnen und Künstlern plaudern konnte. Jetzt dominieren die grosse Greenstone-Factory, die übermannshohen Gold-Schürf-Maschinen und die kommerzialisierte Fertigung. Doch die Leute (Touristen wie Einheimische) scheinen das zu lieben: Mehr Umsatz, schnellere Käufe, weniger Zeitvergeudung, alles an einem Platz... für unsere Kinder allerdings ist dieser Sonntag nicht gerade erbaulich - immerhin erfreuen sie sich aber an den Greenstones, die sie auswählen dürfen und zumindest für Malolo ist der Tag gerettet, als sie sich neue Ohrstecker aussuchen darf!


© by: Pius Kessler
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online-office K  Eveline and Pius Kessler CH-Trogen

update: Januar 2000